Freitag, 25. Dezember 2015

Bus Stop - eine Geschichte zum Weihnachtsfest...

Bus Stop


von Cord Uebermuth

Es war schon spät als Marty im Dunkeln an der hellerleuchteten Busstation auf dem Weg zum Altglascontainer vorbei kam. Der Rucksack mit dem Altglas klapperte auf seinem Rücken, als er den Obdachlosen im Licht der C&A Werbung auf den verwaisten Plätzen der Haltestation erblickte. Seine Habe lag zu seiner Linken in der Ecke des Bushäuschens und seine Jacke zu seiner rechten unter dem Plakat der C&A Werbung, auf dem ein junges Mädchen mit einem „Welcome Hawaii“ T-Shirt abgebildet war...

Marty ging auf das Bushäuschen zu und fragte, ob er was für Ihn tun könne. Der alte Mann, der in die Bildzeitung vertieft war, schaute über den Rand der Zeitung und musterte ihn aufmerksam und skeptisch. Schliesslich legte er die Revolverpresse zur Seite.

„Hast Du `ne Kippe für mich?“, fragte der Mann ihn und Marty verneinte. „Na ja auch nicht schlimm“, meinte der Alte und winkte dabei mit seiner linken Hand und einem Lächeln fröhlich ab. Seine entblößten Füße schauten aus zertretenen Turnschuhen zu ihm nach oben. Ein riesenhafter Bart umspielte seine funkelnden wachen und lachenden braunen Augen. Sein ganzes Wesen strahlte und seine Augen glänzten. Der Obdachlose zog sich eine Zigarette aus einer verknitterten Zigarettenschachtel, die er aus seiner verdreckten Hose gezogen hatte und fragte Marty nach Feuer. Der musste wiederum verneinen und so zog der Alte mit dem nächsten Handgriff ein Feuerzeug aus seiner rechten Hosentasche und zündelte sich die Zigarette selber an und nahm danach genussvoll einen tiefen Zug. Schliesslich bot er Marty einen Schluck aus seiner Weinflasche an und meinte zugleich dazu: „Ein vorzüglicher Tropfen ist das!“ Nicht das er den immer trinken würde, nein so einer, wie die anderen, sei er nicht...

Es schien so, als wollte er sich für seinen Tafelwein, den er so lobte und den er bei sich hatte, entschuldigen.

Nein, so wie die anderen sei er bestimmt nicht – er studiere, betonte er, er liebe die Sprachen und alles andere was damit zusammenhängt. Linguistiker sei er und er gebe den Studenten, besonders jenen aus dem Ausland an der Universität Nachhilfeunterricht. 

Er kenne all die anderen von seinen Leuten. Die meisten von denen seien wahre Sozialschmarotzer, betonte er, allen voran jene, die überall  die Obdachlosenzeitungen verkaufen würden. „Die fahren in Wirklichkeit dicke Autos, haben fette Eigentumswohnungen und tun nur einen auf Obdachlos machen!“ , entfuhr es ihm.

 „Den meisten von denen geht es besser als vielen anderen in der Bevölkerung.“, sprudelte es aus ihm heraus. „Das sind richtige Verbrecher, kauf bloß niemals irgendwas von denen. Die tun nur so als ob - die meisten zumindest...!“, erklärte er.

Und überhaupt, er wäre keiner von diesen Sozialschmarotzern, ließ er Marty wissen. Er arbeite durchaus wo er kann und helfe vielen Menschen aus...

„Wie heißt Du ?“, fragte er schließlich Marty und wusste sofort um die Herkunft des Namens und stellte fest, das der Name aus dem Englischen käme. Die englische Sprache war ihm sehr vertraut, er liebte diese Sprache und eine Vielzahl englischer Zitate sprudelten aus ihm hervor. Er philosophierte eine ganze Weile über die Mentalität der Deutschen und die der Engländer und kam schließlich über Gott auf die Puritaner zu sprechen, die am schlimmsten von allen seien.  Denn die verstünden überhaupt keinen Spaß und auch nicht zu leben, entwich es ihm.

„Die Puritaner sind defätistisch veranlagt. Das ist schlimmer als destruktiv zu sein...“, betonte er. Ob er denn wüsste, was Defätismus sei, fragte er Marty und der musste erneut verneinen.

„Nun Defätismus ist genau jene Eigenart, vor allem die der Puritaner, immer alles schlecht machen zu müssen“ und das sei schlimmer, fuhr er fort, als alles andere, schlimmer als wenn jemand etwas zerstöre.

Die Puritaner sind Defätisten durch und durch und können sich überhaupt nicht am Leben erfreuen.“, stellte Reinhardt, der Freischaffende, fest. Und während er über die Grundzüge des Lebens philosophierte und wiederholt die Vorzüglichkeiten seines Tafelweins lobte, pries er die englische Sprache und die englische Lebensart...

Schliesslich drückte er gewissenhaft die Zigarette aus und warf sie in den Plastikmülleimer der Haltestelle. Seine Füße waren blau und die Haut schuppig. 

Er bemerkte, das Marty dies sah, und erklärte ihm, das er Socken zur Zeit nicht trage und die Schuhe nicht zubinde, da er sonst Schmerzen habe. Er lehnte neue Socken, die Marty ihm anbot energisch und bestimmt ab. Stattdessen nahm er einen kräftigen Schluck von seinem Rebensaft, der ihm so vorzüglich mundete und erzählte weiter aus seinem Leben, seiner Arbeit als Bauzeichner und Betonverleger in jungen Jahren, über seine Ausbildung und Pfusch am Bau, über Arbeitsplatzverlust und natürlich über seine puritanischen Eltern, die ihn in jungen Jahren verstoßen hatten.

Das Leben sei etwas besonderes, stellte er fest und die meisten Menschen freuten sich zu wenig daran. Er lebe lieber auf der Strasse, als im großen Haus bei seinen Eltern Unterschlupf zu finden... 

Seine Eltern seien Puritaner und wüssten nicht zu leben. Und so plauderte er noch eine ganze Weile über die Auswüchse des Lebens und dem Leben auf der Strasse, darüber das der Juli und der August verregnen würden, wenn der Juni weiterhin so sonnig und warm bliebe wie bereits zuletzt der Mai...

„Sonnige und heiße Sommer gibt es nur, wenn der Juni verregnet und kalt ist!“ , stellte Reinhardt sachlich fest. Zumindest sei das seine Erfahrung aus vielen Jahren auf der Strasse. Ein kalter nasser Juni sei ihm grundsätzlich lieber als ein warmer Juni, wie der jetzige -  und überhaupt, wenn der Sommer heiß würde, so wüsste er wo es das kühlste Wasser der ganzen Stadt gäbe. In den endlosen Katakomben der Unikliniken nämlich – an einer ganz besonderen Stelle, die nur er kannte. Das sei ein wahrer Segen an heißen Sommertagen...

Reinhardt erzählte von seinem guten Netzwerk an Leuten und Informanten, die ihm immer helfen würden. Und so ginge es ihm gar nicht schlecht. Es bliebe sogar genug, um die anderen seiner Kumpels, denen es gar nicht so gut ging wie ihm, zu versorgen. Reinhardt erzählte bis spät in die Nacht über das Schicksal auf der Strasse. Eine Unzahl an Bussen hielten in dieser Nacht noch vergebens an der Busstation, während sich die Schöne vom C&A Plakat mit ihrem dunklen wallenden Haar vor ihm rekelte...

Auch in den Tagen nach dieser Nacht sah Marty Reinhardt und das C&A Mädchen noch des öfteren gemeinsam an der Busstation. Sie hieß ihn - mit ihrem enganliegenden T-Shirt an ihrer Brust  - auf dem Plakat auf Hawaii stets willkommen, war immer freien Herzens - offen und auffordernd  - für ihn und alle anderen am Busstop.

Auch wenn sie kein Wort mit Ihm wechselte, so erblickte Marty Reinhardt, den Freischaffenden, später noch einige Male am Bustop in Gegenwart der Plakatschönen – mal ihr zu Füssen liegend, mal vor ihr  - ganz abwesend - in die Zeitung vertieft... 

Sie verbrachten viele Stunden gemeinsam. Ihre Gegenwart schien ihm zu behagen – auch wenn sie kein Wort mit ihm wechselte... Aber vielleicht war es genau dies, was er suchte, so wie viele Männer – etwas Ruhe und Abgeschiedenheit – abseits von all dem Lärm und der Unbill des alltäglichen Lebens... 

Schliesslich verschwand sie – und mit ihr wenig später auch er....

  
Ein letzter Nachtrag zum Sommer: „Der Juli und der August verregneten...“


Düsseldorf im Spätsommer 2005

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